Reise in geheimnisvolle Täler
Die neuen Bergsteigerdörfer Valle Onsernone im Tessin und Valle di Lozio in den Bergamasker Alpen
Im Jahr 2024 hat die Initiative Bergsteigerdörfer zwei neue Dörfer aufgenommen: Valle Onsernone, ein Seitental des bekannten Valle Maggia, ist seit Mai 2024 Teil der Initiative, genauso wie das Valle di Lozio, ein neues italienisches Bergsteigerdorf.
“Benvenuti in Onsernone”. Das erste Schild wirkt etwas verblasst, das zweite Schild zeigt jedoch in kräftigen Farben den Schriftzug des Dorfes.
Bei unserer Anreise über das kurvige und ausgesetzte Sträßchen versuchen wir so oft wie möglich einen Blick ins Tal zu erhaschen. Die besonders schön erhaltenen Dörfer des Onsernonetals schmiegen sich malerisch an den Südhang, hoch über dem Fluss Isorno, der sich tief ins Tal eingeschnitten hat.
Sie wirken wie Perlen, eingerahmt vom Grün der Wälder, in denen man je nach Jahreszeit Pilze und Kastanien findet. Mit ihren engen Treppenwegen, gepflasterten Gassen, Balkonen, verzierten Fassaden und hoch in den Himmel aufragenden Kirchtürmen bewahren sie die Erinnerung an eine vergangene Zeit.
Während die Ortsbilder oft an die Vergangenheit erinnern, hat die Gegenwart beim Klettern im Tal längst Einzug gehalten.
So gibt es zahlreiche lohnende Klettergebiete im Tal wie z.B. Paleria, Russo oder am Pizzo della Croce. Sie bieten Sportkletterrouten, aber auch Mehrseillängen unterschiedlicher Länge und Schwierigkeitsgrade auf sehr kompaktem, hervorragendem Gneis.
Polenta mit Schnecken und Kutteln
Im «Caffè della Posta» erwartet uns Thomas Lucas, der im Jahr 2000 mit seiner Frau aus Belgien ins Onsernonetal kam.
Hier sind ihre gemeinsamen Kinder zur Welt gekommen und hier hat er sich in vielen Bereichen als tatkräftiger Macher mit eingebracht: als Koch in der Schulkantine, als Schulbusfahrer, als Bierbrauer oder auch als Werbetreibender für das Farina Bóna.
Heute betreibt Thomas Lucas gemeinsam mit seiner Frau ein Restaurant mit traditioneller, regionaler Küche. Hier gibt es typische Delikatessen aus dem Valle Onsernone zu kosten. So sind seine Polenta mit Schnecken und die Kutteln inzwischen bis über die Grenzen des Val Onsernone bekannt.
Der Grieß aus dem Thomas Lucas seine Polenta kocht, wird im Dorf Loco in einer historischen Mühle, gemahlen. In dem Nachbardorf Vergeletto gibt es jedoch ebenfalls eine Mühle in der das bekannte Farina Bóna hergestellt wird, ein Mehl aus geröstetem, gemahlenen Mais.
Dort befindet sich im Erdgeschoss eine traditionelle Anlage für Vorführungen und im Keller eine moderne Maschine, mit welcher der Mais von heute gemahlen wird.
“Mais bon …” meint Thomas mit einer Handbewegung, die ungefähr Folgendes besagt: “Traditionen zu pflegen ist gut und schön, aber irgendwann muss man auch wirtschaftlich arbeiten, um zu überleben.”
Aus dem Farina Bóna stellt Thomas unter anderem “La Bonella” her, einen Aufstrich, der einer Haselnusscreme ähnelt und wunderbar schmeckt.
Bergsteigerdorf: ein wichtiges Label
“Im Valle Onsernone findet man Ruhe, Schönheit, Kühle und guten Schlaf. Was manchmal fehlt, ist eine ganzheitliche Vision.” Thomas bedauert, dass der Parco Nazionale del Locarnese 2018 in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde; er ist der Meinung, dass dieses Projekt dem Tal mit seiner schwächelnden Wirtschaft und seiner prächtigen Natur die nötige Aufmerksamkeit verschafft hätte.
Umso mehr freut es ihn, dass das Valle Onsernone das Label “Bergsteigerdorf” erhalten hat.
In Zeiten des Klimawandels geht es für die Bewohnerinnen und Bewohner des Tals mehr denn je darum Lebensqualität, Wirtschaft und Ökologie ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Initiative “Bergsteigerdörfer” ist ein Schritt in diese Richtung, ebenso die für 2025 geplanten Wanderwege: Einen sehr alpinen Steig über die Gipfel des Gebiets und einen Wanderweg der die malerischen Dörfer des Tals verbinden soll. Das Tal möchte sich öffnen, aber dabei dennoch authentisch bleiben.
Als bei der Abreise der Blick auf die zwei unterschiedlich gut erhaltenen Ortsschilder fällt, hat man das Gefühl, dass dies gut gelingen könnte.
Autorin: Die Tessinerin Cindy Fogliani ist Journalistin, Schriftstellerin, Bergsteigerin und Anhängerin von Konfuzius, der sagte: „Tu die Arbeit, die du liebst, und du wirst keinen einzigen Tag in deinem Leben arbeiten“.
Im neuen Bergsteigerdorf Valle di Lozio sollen mit einem ganzjährigen, umweltverträglichen Bergtourismus neue Impulse gesetzt und auch Zuwanderer angezogen werden.
Das neue Bergsteigerdorf nennt sich Valle di Lozio, nicht nur Lozio. Denn es handelt sich – genau wie im Valle Onsernone – nicht um ein einziges Dorf, sondern um vier Weiler, die in diesem Nebental des bekannten Val Camonica in der Lombardei liegen. Das enge und waldreiche Tal erstreckt sich entlang des Baches Lanico zwischen 519 m und 2.549 m Höhe und über eine Fläche von 24 km². Den Anfang des Tals bildet eine tiefe Schlucht. Hier verläuft das Sträßchen, das das Valle di Lozio mit Malegno im Val Camonica verbindet.
Ein Tal – vier Weiler
Insgesamt haben die kleinen Orte Villa, Laveno, Sommaprada und Sucinva 350 Einwohner. Im obersten Teil des Tales eingebettet, liegen alle nahe beieinander zwischen 800 und 1.000 m. Trotz der Nähe hat jeder Weiler seine Besonderheiten und seine eigene Atmosphäre. Der Gemeindesitz befindet sich im mittelalterlichen Dorfkern von Laveno. Das Dörfchen Sucinva, im östlichen Teil der Hochebene, präsentiert sich mit einem historischen Ortskern aus dem 14. Jahrhundert, einer kleinen Kirche aus dem 17. Jahrhundert und einem besonderen, mit einer Freskomalerei geschmückten Brunnen. Der auf 1.405 Meter Höhe gelegene Weiler ist Sommaprada, dessen Name von den Begriffen somma (oberster Teil) und prada (Wiese) stammt. Von dieser Ortschaft ist das kleine Kirchlein Santa Cristina erreichbar, das von Felswänden umgeben und mit einer besonderen Legende verbunden ist. Villa, die größte Ortschaft, liegt am oberen Ende des Tals und von dort aus beginnen die meisten Wanderungen und Skitouren.
Eine Chance für das Valle di Lozio
Aus dem Valle di Lozio sind bereits viele Einwohner abgewandert in die größeren Städte der Region. Dennoch sind die Gebäude in den Dörfern glücklicherweise in gutem Zustand und zum überwiegenden Teil noch in Besitz der Einheimischen.
Nach dem die letzten Jahre oft stark von Abwanderung geprägt waren, gibt es aktuell in der dritten Generation wieder die Tendenz in den Ort zurückzukehren.
Der Tourismus konzentriert sich derzeit auf vier, fünf Wochen in der Hauptferienzeit. Von Seiten der lokalen Wirtschaft besteht ein großes Interesse, die Saisonzeiten auszuweiten und auch ein internationales Publikum anzusprechen. Das neue Bergsteigerdorf Valle di Lozio will durch das Netzwerk der Bergsteigerdörfer v.a. die jetzt noch ansässigen Menschen im Tal halten und Verbesserungen z.B. für den öffentlichen Nahverkehr erreichen.
Bergwelt und alpine Infrastruktur
Im Gegensatz zum untersten Teil des Tales, wo Wälder die sehr steilen Hänge bedecken, prägt den oberen Talabschnitt eine Hochebene. Der Altopiano del Sole ist zwar nicht sehr groß, aber sehr sonnig und von artenreichen Wiesen geprägt. Beeindruckende Gipfel umringen die Weiler Sucinva, Sommaprada, Laveno und Villa im Talschluss des Valle di Lozio.
Der höchste Gipfel im Westen der Gebirgskette ist der Pizzo Camino (2491 m). Er ist als anspruchsvolle Wanderung über das Rifugio Laeng (1760 m) erreichbar. Von dort kann man auch über den Passo di Ezendola (1974 m) das benachbarte Val di Scalve erreichen, was bereits in der Vergangenheit von großer Bedeutung gewesen ist. Weitere wichtige Gipfel der Region sind der Sossino (2.399 m), der Cimone della Bagozza (2.409 m) und das Concarena Massiv mit den Gipfeln Cima Bacchetta (2.549 m) und Monte Vaccio (2.338 m). Die meisten von Ihnen sind sowohl zu Fuß als auch mit Tourenski gut zu erreichen. Im Concarena Massiv gibt es außerdem einige Klettertouren verschiedener Schwierigkeitsgrade.
Das Rifugio Laeng (1.760 m) und das Rifugio San Fermo (1.868 m) sind von Villa aus in ca. 800 Hm erreichbar. Neben den beiden Schutzhütten verfügt das Gebiet über zwei Biwakschachteln, das Val Baione (1.960 m) mit zwölf und das Don Giulio Corini (2.016 m) mit sieben Schlafplätzen.
Giro delle frazioni
Die vier Orte im Valle di Lozio sind durch einen einfachen Rundweg auf Steigen oder wenig befahrenen Straßen miteinander verbunden. Der „Giro delle frazioni“ führt durch Wälder und Wiesen und ist in ca. 3 Stunden machbar. Auf dem Rundgang trifft man auf einige der Kunstwerke, die von den Künstlern der Kunstsommerresidenz Falía hergestellt worden sind. Dieses Kunstprojekt bietet seit 2018 Künstler:innen kostenlose Unterkunft und Arbeitsplatz, um Kunstwerke zu schaffen, die eine besondere
Verbindung zu dieser Region haben. Viele der Kunstwerke stehen im Freien, andere im lokalen ethnografischen Museum „Casa museo della gente di Lozio“ in Villa.
Kurios: Insalata di lichene
Auf der Speisekarte einiger Gastbetriebe finden sich Gerichte aus der Vergangenheit, die Aromen und Geschmacksrichtungen wiederentdecken, die heute bereits bei vielen vergessen sind. Im Valle di Lozio wurde das Isländisch Moos traditionell genutzt, auch als Zutat im Salat (Insalata di lichene) oder als Beilage zu Kartoffeln und Eiern. Flechten sind reich an Proteinen und besserten ehemals die karge Kost der Talobewohner:innen auf.
Autorinnen: Barbara Foggiato, Arbeitsgruppe Bergsteigerdörfer CAI | Anna Pichler, Projektkoordinatorin Bergsteigerdörfer Südtirol beim AVS
In der aktualisierten Broschüre Neue Bergsteigerdörfer werden sowohl das Valle Onsernone, als auch das Valle di Lozio weiter vorgestellt. Sie stellt auch jene Bergsteigerdörfer vor, die seit 2019 aufgenommen wurden und ist als Ergänzung zur Broschüre Kleine und feine Bergsteigerdörfer zum Genießen und Verweilen (2018) gedacht.